7. Kartenhistorisches Nachwuchskolloquium

7. Kartenhistorisches Nachwuchskolloquium

Organisatoren
Ingrid Baumgärtner, Mittelalterliche Geschichte, Universität Kassel; Martina Stercken, Allgemeine Geschichte des Mittelalters und Vergleichende Landesgeschichte, Universität Zürich; Ute Schneider, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Duisburg-Essen
Ort
Kassel
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.05.2018 - 12.05.2018
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Von
Beatrice Blümer, Geschichtswissenschaften, Universität Kassel

Seit einigen Jahren gewinnt die Kartographiegeschichte in den Geschichtswissenschaften immer mehr an Bedeutung. Ein wichtiger Teil dieser Entwicklung ist das Kartenhistorische Nachwuchskolloquium, welches seit der Gründung im Jahr 2011 jährlich stattfindet und zwischen den Standorten Kassel, Essen und Zürich rotiert. Auch die siebte, diesmal aus Mitteln des Kasseler Internationalen Graduiertenzentrums Gesellschaftswissenschaften unterstützte Veranstaltung in der Reihe bot Nachwuchswissenschaftler/innen aus Deutschland, Italien, Frankreich, Österreich und der Schweiz wieder eine interdisziplinäre Plattform, um Dissertationen und andere Qualifikationsarbeiten zur Kartographiegeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert vorzustellen und gemeinsam zu diskutieren.

Zu Beginn der Tagung begrüßte INGRID BAUMGÄRTNER (Kassel) die Teilnehmenden mit einem Blick auf die aktuelle Forschungsrelevanz von Karten als komplexe nMedien, die in Text-Bild-Relationen Ordnungsschemata und Weltsichten über die Jahrhunderte hinweg beispielhaft darstellen und vermitteln. Sie betonte, das Kolloquium habe bereits zahlreiche Früchte getragen, wie die verschiedenen Dissertationsprojekte zeigen, die bei den vorausgegangenen Veranstaltungen vorgestellt und zwischenzeitlich publiziert wurden.

IRENE GILODI (Florenz) eröffnete die Vorträge, indem sie den Panegyrikus des Balderich von Bourgueil mit dem Kartenmosaik aus der Kirche San Salvatore in Turin verglich. Beide Weltdarstellungen, die im 12. Jahrhundert jeweils als Sonderfall gelten können, sind prädestiniert für eine Gegenüberstellung, obwohl sie in grundsätzlich unterschiedlichen Kontexten konzipiert wurden: eine ist von sakraler, die andere von profaner Natur. Ein bedeutender Unterschied liegt zudem in der Materialität: Das Kartenmosaik aus Turin ist ein noch heute existierendes Artefakt, Balderichs Panegyrikus eine literarische Fiktion, anhand derer die zeitgenössische künstlerische Produktion zu analysieren sowie mittelalterliche Profanräume zu rekonstruieren sind. In neuartiger Weise ginge die komparative Wahrnehmung der beiden Artefakte über das Vergleichen ikonographischer Aspekte hinaus, denn der Werkzusammenhang schaffe die Möglichkeit, den jeweils materiell oder gedanklich konstruierten Raum nachzuempfinden.

NADINE HOLZMEIER (Rostock) untersuchte die kartographischen Aspekte in der spätmittelalterlichen Weltchronik Chronologia Magna des Paulinus Minorita, indem sie das Zusammenspiel von Historiographie und Kartographie beleuchtete: Die Chronik thematisiert räumliches Wissen über die Welt in einem historisch-chronologischen Kontext. Holzmeier verdeutlichte die unterschiedlichen räumlichen Bezugspunkte auf den im Werk enthaltenen Karten, die sich in das diagrammatisch aufgebaute Gesamtkonzept der Chronik einbinden lassen. Am Beispiel der Stadt Rom und des Heiligen Landes demonstrierte sie zwei in Form und Funktion unterschiedliche Darstellungsstrategien: Die Chronik präsentiere Geschichte mit zeitlichen und räumlichen Bezügen, wobei die Romdarstellung im Gegensatz zu Jerusalem überzeitlich wirke. Rom beinhalte zudem antike Bezüge, während die Karte des Heiligen Landes das Jenseits thematisiere. Die anschließende Diskussion akzentuierte die Vielfalt der Chronik. Ihre Kombination von Texten, Karten, Diagrammen und Bildern ließen das didaktische Interesse des Autors sowie die wissenshistorische Relevanz seines Werkes erkennen.

GERDA BRUNNLECHNER (Hagen) thematisierte am Beispiel der Genuesischen Weltkarte das Wechselspiel zwischen den Elementen von Küstenlinienkarten und mittelalterlichen mappae mundi. Als Weltkarte des 15. Jahrhunderts vereine sie die Ptolemäische Geographie, Informationen aus zeitgenössischen Reiseberichten und mündlich vermittelte Wissensbestände. Ein Großteil der Karte widmet sich dabei dem raumzeitlichen Umgang mit Wissen über die Endzeit. In der Region, in der Alexander der Große die Endzeitvölker einschloss, werden neben Gog und Magog beispielsweise der Antichrist und ein Selbstmörder dargestellt. Flüsse, Berge und Meere schaffen einen Raum, der durch die Thematisierung von Vergangenheit und Zukunft zeitlich geordnet wird. Brunnlechner erläuterte mögliche Deutungsebenen der Eschatologie auf der Genuesischen Weltkarte. Zuletzt diskutierte sie die Frage, ob Kartenmacher eine bestehende Vorstellung von der Welt abbildeten oder im Herstellungsprozess zu einem neuen Blick auf die Welt gelangten.

Zum Abschluss des ersten Tages referierte STEPHANIE ZEHNLE (Essen) über die Besonderheiten afrikanischer Karten. Die Forschung beschäftigte sich bisher wenig mit der Kartographie Afrikas, sodass die Referentin zunächst ihren Forschungsgegenstand definierte. Die Vorstellung von einem homogenen Afrika sei aufzugeben, da die unterschiedlichen Kulturen dieses Erdteils Wissen auf verschiedene Weise verzeichneten. Demnach existiere nicht ein Typ, sondern eine breite Vielfalt an afrikanischen Karten. Beispielhaft stellte die Referentin transkontinentale Diskurse anhand der um 1817 entstandenen Karte von Abdassalam aus Sokoto dar. Diese zeigt eine durch doppelte Linien abgegrenzte rechteckige Fläche, die innerhalb und außerhalb mit Inschriften versehen wurde. Ihr Anspruch war es, die Grenzen einzelner Regionen festzulegen, wobei die territoriale Heimat im Inneren des Bildes ruhte und der Text die äußeren Gebiete thematisierte. Die diagrammhafte Anordnung afrikanischer Karten verzichtete auf figürliche Repräsentationen, wobei – wie Zehnle in der anschließenden Diskussion ausführte – das Bilderverbot des Islams eine Rolle gespielt haben dürfte.

Zu Beginn des zweiten Tages referierte SABINE HYNEK (Hagen) über die Kommunikationswege kartographischen Wissens um 1500 unter Bezug auf Nürnberg. Regionalkartographie veranschauliche nicht nur Kenntnisse aus Beobachtungen, Vermessungen oder Berechnungen, sondern sei auch Teil und Ergebnis von Kommunikationsprozessen. Da Karten in der Regel Erkenntnisse aus unterschiedlichen Quellen verarbeiten, stelle sich die Frage, woher ein Kartograph seine Informationen bezog. Am Beispiel der Stadt Nürnberg verdeutlichte die Referentin Kommunikationswege sowie Strategien der Wissensvermittlung unter Kartenmachern. Ebenso wichtig sei die Frage nach weiteren Akteuren wie etwa Druckern, Kaufleuten und Gelehrten. Nürnberger Protagonisten waren etwa der Kleriker und Globenhersteller Johannes Schöner, der Bamberger Priester Lorenz Beheim und der Humanist Willibald Pirckheimer. Der Briefwechsel, in dem die drei Gelehrten ihre geographische Expertise austauschten, verdeutlichte Aspekte der Weitergabe von Wissen und der Entstehung von Wissensnetzen.

EVELIEN TIMPENER (Hannover) berichtete anschließend über Augenscheinkarten aus Hessen, also Regionalkarten, die bei Rechtskonflikten den Beteiligten vor Gericht einen Eindruck von den jeweiligen Gegebenheiten verschaffen sollten. Im Fokus stand die Wechselseitigkeit textueller und visueller Aufbereitung, bezeichnet durch die Kernbegriffe ‚Raumdarstellung‘ und ‚Raumwahrnehmung‘. Erst der Zugang zu den Gerichtsakten ermögliche es, das Verhältnis zwischen Bild und Text zu präzisieren. Während die Karten den Raum visualisierten, erfassten die Akten die jeweilige Raumwahrnehmung. Die Referentin verfolgte diese These anhand zweier Beispiele, die Auseinandersetzungen zwischen Mainz und Hanau sowie zwischen Friedberg und Hanau dokumentieren. Die Parteien waren jeweils bemüht, Zeugenaussagen, Abschriften und Augenscheinkarten so aufeinander abzustimmen, dass ein geschlossenes Bild vermittelt werde. Die Kartenanalyse sollte deshalb Entstehung, Anwendung und Rezeption der einzelnen Bilder ebenso berücksichtigen wie deren Intention. Schon die Zeitgenossen waren sich bewusst, dass Karten vor Gericht bestimmte Aussagen unterstützen oder widerlegen konnten. Im Anschluss an den Vortrag wurde die von der Referentin vorgenommene Trennung in Raumdarstellung (Bild) und Raumwahrnehmung (Text) intensiv diskutiert. Da beide Begriffe nicht an ein bestimmtes Medium gebunden werden könnten, sei die vorgenommene Separierung nicht allgemein tragfähig.

ERIK HASSELBERG (Zürich) behandelte Johann Stumpfs Eidgenössische Chronik aus dem 16. Jahrhundert mit den darin thematisierten Räumen: einerseits dem physisch-geographischen Raum und andererseits dem operationablen Repräsentationsraum. Raumkonstitutionen besäßen einen besonderen Stellenwert in der Chronik, die reichliche Illustrationen und eine systematische Darstellung des Schweizer Landes und seiner Menschen enthält. Am Beispiel der Karte von Zürich demonstrierte Hasselberg den Einsatz stilistischer Elemente. So verdeutliche etwa die kartographische Verortung antiker Stämme im Zürichgau die historische Entwicklung der als Ethnie dargestellten Eidgenossenschaft, deren Konstitution herrschaftsbestimmende Funktionen erfüllte. In der anschließenden Diskussion wurde ergänzend zum Vortrag vor allem das Text-Bild Verhältnis der Chronik aufgegriffen.

JULIEN BÉRARD (Bayreuth) präsentierte sein Dissertationsprojekt zu Abraham Ortelius‘ Darstellung der Welt im Antwerpen des 16. Jahrhunderts, das sich in dieser Zeit als europäische Handelsmetropole und eines der wichtigsten Produktionszentren kosmographischer Werke etablierte. Dort konzentrierten sich nicht nur Handelsgüter, sondern auch Informationen und Kenntnisse. Eintreffende Gelehrte, Künstler und Handwerker in großer Zahl beeinflussten die Buch- und Kartenproduktion, in deren Zuge Karten für den gesamten europäischen Kontinent gedruckt wurden. Die Stellung der mit weiten Handelswegen verknüpften Stadt war einzigartig und brachte Waren und Wissen aus der ganzen Welt zusammen. Das Kartenwerk von Abraham Ortelius zeige dieses Zusammenspiel zwischen sozioökonomischen Faktoren: Die Karten seien gleichermaßen Kunstwerke, Handelswaren und Produkte einer Renaissancegelehrsamkeit, die historiographisches, religiöses, politisches, ethnologisches und naturkundliches Wissen vereinte, und würden damit weit über die Geographie hinaus Kenntnisse vermittelten.

Den Abschluss des Kolloquiums bildete ein Werkstattbericht von MURIEL GONZÁLEZ (Bochum) zu unterschiedlichen Verfahren der Kartierung Europas gegen Ende der Frühen Neuzeit. Im Fokus standen der Aufstieg zur Weltregion, die hegemonialen Positionierung in der globalen Ordnung sowie die Frage, mit welchen Mitteln sich der europäische Kontinent geschlossen darstellen und als ein vermeintliches Ganzes etablieren konnte. Mit Europa verband man nicht nur eine wirtschaftliche Gemeinschaft, sondern auch einen Wertezusammenschluss. Den Paradigmenwechsel im späten 18. Jahrhundert erläuterte die Referentin anhand von Kolorierungen und Grenzziehungen auf den Karten, die zur Repräsentation von Herrschaftsansprüchen dienten. Die kartographische Zentrierung Europas sollte dessen Machtstellung unterstreichen, eingezogene Linien definierten den eigenständigen, von den umliegenden Ländern abgegrenzten Erdteil. Die kartographische Visualisierung verschaffte diesen Grenzen Gültigkeit und war deshalb bei der Etablierung der Vorstellung eines geeinten und zentrierten Europas von großer Bedeutung.

Die vielfältigen Beiträge des Nachwuchskolloquiums wurden lebhaft diskutiert, wobei es vor allem um Text-Bild Beziehungen und den Raum als Kategorie diskursiver Aushandlungsprozesse ging. Die Kartographiegeschichte erwies sich einmal mehr als besonders geeignet für den interdisziplinären Austausch, da sie es ermöglicht und erfordert, Prozesse und Praktiken auf unterschiedlichen wissenschaftlichen Ebenen zu erforschen. Allein der komparative Umgang mit Text und Bild führte zu Entdeckungen und Neubewertungen von Wissensbeständen. Der kritische Blick auf Räumlichkeitsvorstellungen half identitäre und nationale Diskurse herauszuarbeiten. Zum reichhaltigen Ertrag des Kolloquiums trägt deshalb auch bei, dass hier Wissenschaftler/innen aus verschiedenen Disziplinen mit unterschiedlichen Epochenschwerpunkten das Quellenmaterial betrachten und Synergieeffekte entstehen, von denen Qualifikationsprojekte nur profitieren können.

Konferenzübersicht:

Ingrid Baumgärtner (Kassel): Einführung

Sektion 1

Moderation: Ingrid Baumgärtner (Kassel)

Irene Gilodi (Florenz): Inmitten und auf dem Kosmos: Der Panegyrikus des Balderich von Bourgueil und die Mosaik-‚Karte’ aus San Salvatore in Turin

Nadine Holzmeier (Rostock): Zwischen Jerusalem und Rom – Zur Verbindung von Kartographie und Historiographie bei Paulinus Minorita

Sektion 2

Moderation: Lena Thiel (Kassel)

Gerda Brunnlechner (Hagen): Die ‚Genuesische Weltkarte’: Die Endzeit naht!

Stephanie Zehnle (Essen): Was ist eine afrikanische Karte? Textualität, Bildlichkeit, Mündlichkeit

Sektion 3

Moderation: Rebekka Thissen (Kassel)

Sabine Hynek (Hagen): Kommunikationswege in der Regionalkartographie um 1500: Nürnberger Spuren

Evelien Timpener (Hannover): Augenzeugen und Augenschein – Das Verhältnis zwischen Raumwahrnehmung und Raumdarstellung in hessischen Augenscheinkarten des 16. Jahrhunderts

Sektion 4

Moderation: Ute Schneider (Essen)

Erik Hasselberg (Zürich): Die eidgenössische Chronik des Johann Stumpf. Raumkonstitution in Historiographie und Kartographie am Beispiel des Zürichgaus

Julien Bérard (Bayreuth): Kommunikation, Kommerz und Wissensproduktion: Abraham Ortelius und die kartographische Darstellung der Welt im Antwerpen des späten 16. Jahrhunderts

Muriel González (Bochum): Techniken der Herstellung Europas. Kartographie zum Ende der Frühen Neuzeit